»Ja.«


»Eigentlich darf ich's nicht sagen, aber Ihnen sag ich's. Pflaumenkompott mit einem Schlag Sahne drauf. Sieht ganz hübsch aus. Mögen Sie Pflaumen?«

»Nein«, sagte ich, »ich habe eine ebenso unerklärliche wie unüberwindliche

vor der Geburt - zusammen. Interessant. Höherer hat achthundert Fälle genau untersucht. Sie sind Melancholiker?«

»Woher wissen Sie das?«


»Ich hörs an der Stimme. Sie sollten beten und ein Bad nehmen.«


»Gebadet habe ich schon, und beten kann ich nicht«, sagte ich.


»Es tut mir leid«, sagte er, »ich werde Ihnen einen neuen Augustinus stiften. Oder Kierkegaard.«

»Den hab ich noch«, sagte ich, »sagen Sie, könnten Sie meinem Bruder noch etwas ausrichten?«

»Gern«, sagte er.


»Sagen Sie ihm, er soll mir Geld mitbringen. Soviel er auftreiben kann.«


Er murmelte vor sich hin, sagte dann laut: »Ich notiers nur. Soviel Geld wie möglich mitbringen. Übrigens sollten Sie Bonaventura wirklich lesen. Großartig - und verachten Sie mir das neunzehnte Jahrhundert nicht so sehr. Ihre Stimme klingt, als wenn Sie das neunzehnte Jahrhundert verachten.«

»Stimmt«, sagte ich, »ich hasse es.«


»Irrtum«, sagte er, »Unsinn. Nicht einmal die Architektur war so schlecht, wie sie gemacht wird.« Er lachte. »Warten Sie bis zum Ende des zwanzigsten, bevor Sie das neunzehnte Jahrhundert hassen. Macht es Ihnen was aus, wenn ich zwischendurch meinen Nachtisch esse.«

»Pflaumen?« fragte ich.


»Nein«, sagte er, er lachte dünn: »Ich bin in Ungnade gefallen und bekomme keine Herrenkost, nur noch Dienerkost; heute als Nachtisch Karamelpudding. Übrigens«, er hatte offenbar schon einen Löffel Pudding im Mund, schluckte, sprach kichernd weiter, »übrigens räche ich mich. Ich telefoniere stundenlang mit einem früheren

Konfrater in München, der auch ein Schüler Schelers war. Manchmal rufe ich

Kirche ist ja reich, stinkreich. Sie stinkt wirklich vor Geld - wie der Leichnam eines reichen Mannes. Arme Leichen riechen gut - wußten Sie das ?«

»Nein«, sagte ich. Ich spürte, wie meine Kopfschmerzen nachließen, und malte um die Nummer des Dings einen roten Kreis.

»Sie sind ungläubig, nicht wahr? Sagen Sie nicht nein: ich höre an Ihrer Stimme, daß Sie ungläubig sind. Stimmts ?«

»Ja«, sagte ich.


»Das macht nichts, gar nichts«, sagte er, »es gibt da eine Stelle bei Isaias, die von Paulus im Römerbrief sogar zitiert wird. Hören Sie gut zu: Die werden es sehen, denen von ihm noch nichts verkündet ward, und die verstehen, die noch nichts vernommen haben.« Er kicherte bösartig. »Haben Sie verstanden?«

»Ja«, sagte ich matt.


Er sagte laut: »Guten Abend, Herr Direktor, guten Abend«, und legte auf. Seine Stimme hatte zuletzt auf eine bösartige Weise unterwürfig geklungen.

Ich ging zum Fenster und blickte auf die Uhr draußen an der Ecke. Es war schon fast halb neun. Ich fand, sie aßen ziemlich ausgiebig. Ich hätte Leo gern gesprochen, aber es ging mir jetzt fast nur noch um das Geld, das er mir leihen würde. Ich wurde mir allmählich über den Ernst meiner Situation klar. Manchmal weiß ich nicht, ob das, was ich handgreiflich realistisch erlebt habe, wahr ist, oder das, was ich wirklich erlebe. Ich werfe die Dinge durcheinander. Ich hätte nicht schwören können, ob ich den Jungen in Osnabrück gesehen hatte, aber ich hätte geschworen, daß ich mit Leo Holz gesägt hatte. Ich hätte auch nicht beschwören können, ob ich zu Edgar Wieneken nach Kalk zu Fuß gegangen war, um Großvaters Scheck über zweiundzwanzig Mark in Bargeld zu verwandeln. Daß ich mich der Details so genau erinnere, ist keine Garantie - der grünen Bluse, die die Bäckerin trug, die mir die Brötchen schenkte,

oder der Löcher im Strumpf eines jungen Arbeiters, der an mir vorbeigegangen war,

ich auf der Türschwelle saß und auf Edgar wartete. Ich war vollkommen sicher, auf Leos Oberlippe Schweißtropfen gesehen zu haben, als wir das Holz durchsägten. Ich entsann mich auch aller Einzelheiten der Nacht, in der Marie in Köln die erste Fehlgeburt hatte. Heinrich Behlen hatte mir ein paar kleine Auftritte vor Jugendlichen für zwanzig Mark den Abend vermittelt. Marie war meistens mit mir gegangen, an diesem Abend aber zu Hause geblieben, weil sie sich schlecht fühlte, und als ich spät mit den neunzehn Mark Reingewinn in der Tasche nach Hause kam, fand ich das Zimmer leer, sah im aufgeschlagenen Bett das blutige Bettuch und fand den Zettel auf der Kommode: »Bin im Krankenhaus. Nichts Schlimmes. Heinrich weiß Bescheid.« Ich rannte sofort los, ließ mir von Heinrichs griesgrämiger Haushälterin sagen, in welchem Krankenhaus Marie lag, lief dorthin, aber sie ließen mich nicht rein, ich mußte erst Heinrich im Krankenhaus suchen, ans Telefon rufen lassen, bevor die Nonne an der Pforte mich reinließ. Es war schon halb zwölf nachts, und als ich endlich in Maries Zimmer kam, war schon alles vorbei, sie lag da im Bett, ganz blaß, weinend, neben ihr eine Nonne, die den Rosenkranz betete. Die Nonne betete ruhig weiter, während ich Maries Hand hielt und Heinrich ihr mit leiser Stimme zu erklären versuchte, was mit der Seele des Wesens geschehen würde, das sie nicht hatte gebären können. Marie schien fest davon überzeugt, daß das Kind - sie nannte es so - nie in den Himmel kommen könnte, weil es nicht getauft war. Sie sagte immer, es würde in der Vorhölle bleiben, und ich erfuhr in dieser Nacht zum erstenmal, welche scheußlichen Sachen die Katholiken im Religionsunterricht lernen. Heinrich war vollkommen hilflos Maries Ängsten gegenüber, und gerade, daß er so hilflos war, empfand ich als tröstlich. Er sprach von der Barmherzigkeit Gottes, die ja »wohl grö- ßer ist als das mehr juristische Denken der Theologen«. Die ganze Zeit über betete die Nonne den Rosenkranz. Marie - sie kann in religiösen Dingen sehr hartnäckig

sein - fragte immer wieder, wo denn die Diagonale zwischen Gesetz und

Barmherzigkeit verlaufe. Ich erinnerte mich des Ausdrucks Diagonale. Schließlich ging ich raus, ich kam mir wie ein Ausgestoßener, vollkommen überflüssig vor. Ich stellte mich an ein Flurfenster, rauchte, blickte über die Mauer auf der anderen Seite in einen Autofriedhof. An der Mauer klebten lauter Wahlplakate. Schenk Dein Vertrauen der SPD. Wählt CDU. Offenbar lag ihnen daran, die Kranken, die aus ihren Zimmern vielleicht auf die Mauer blicken konnten, mit ihrer unbeschreiblichen Stupidität zu deprimieren. Schenk Dein Vertrauen der SPD war ja geradezu genial, fast literarisch gegen den Stumpfsinn, der darin lag, einfach WÄHLT CDU auf ein Plakat zu drucken. Es war fast zwei Uhr nachts geworden, und ich stritt mich später mit Marie darüber, ob das, was ich dann sah, wirklich passiert war oder nicht. Es kam ein streunender Hund von links, er schnüffelte an einer Laterne, dann an dem SPD- Plakat, an dem CDU-Plakat und pinkelte gegen das CDU-Plakat und lief weiter, langsam in die Straße hinein, die rechts vollkommen dunkel wurde. Marie stritt mir, wenn wir später über diese trostlose Nacht sprachen, immer den Hund ab, und wenn sie mir den Hund als »wahr« zubilligte, stritt sie ab, daß er gegen das CDU-Plakat gepinkelt hätte. Sie sagte, ich hätte so sehr unter dem Einfluß ihres Vaters gestanden, daß ich, ohne mir einer Lüge oder Verfälschung der Wahrheit bewußt zu sein, behaupten würde, der Hund habe seine »Schweinerei« an das CDU-Plakat gemacht, auch wenn es das SPD-Plakat gewesen wäre. Dabei hatte ihr Vater die SPD viel mehr verachtet als die CDU - und was ich gesehen hatte, hatte ich gesehen.

Es war fast fünf, als ich Heinrich nach Hause brachte und er mir, während wir durch Ehrenfeld gingen, immer wieder zumurmelte, auf die Haustüren weisend:

»Alles meine Schäfchen, alles meine Schäfchen.« Seine keifende Haushälterin mit den gelblichen Beinen, ihr böse ausgestoßenes »Was soll das ?«Ich ging nach Hause, wusch heimlich in kaltem Wasser im Badezimmer das Bettuch aus.

Ehrenfeld, Braunkohlenzüge, Wäscheleinen, Badeverbot

und nachts manchmal die an unserem Fenster vorbeirauschenden Abfallpakete, wie Blindgänger, deren Drohung im Aufklatschen verpuffte, höchstens durch eine wegrollende Eierschale verlängert wurde.

Heinrich bekam wieder Krach mit seinem Pfarrer unseretwegen, weil er aus der Caritaskasse Geld haben wollte, ich ging dann noch einmal zu Edgar Wieneken, und Leo schickte uns seine Taschenuhr zum Versetzen, Edgar trieb aus einer Arbeiterwohlfahrtskasse etwas für uns auf, und wir konnten wenigstens die Medikamente, das Taxi und die Hälfte der Arztkosten bezahlen.

Ich dachte an Marie, die rosenkranzbetende Nonne, das Wort Diagonale, den Hund, die Wahlplakate, den Autofriedhof - und an meine kalten Hände, nachdem ich das Bettuch ausgewaschen hatte -, und ich hätte das alles doch nicht beschwören können. Ich hätte auch nicht schwören mögen, daß der Mann da in Leos Konvikt mir erzählt hatte, er telefoniere, um die Kirche finanziell zu schädigen, mit dem Wetterdienst in Berlin, und ich hatte es doch gehört, wie sein Schmatzen und Schlucken, als er den Karamelpudding aß.


199